Titelbild Uhrwerk Orange

Was uns “Uhrwerk Orange” schon damals über die heutige Gesellschaft verriet

[FSK 16!]  Heute schreibe ich mal wieder eine Filmanalyse. Das ist für dich spannend, wenn du dich für gute Filme und Filmklassiker interessierst und gerne über Filme sprichst, aber auch, wenn du dir Gedanken über unsere heutige Gesellschaft machst. Denn Film ist häufig eine Reflexion der Realität- oder eben eine Kritik an dieser.

Neben Kubrick interessiere ich mich übrigens vor allem für Autoren wie David Lynch, Lars von Trier und Tarantino. Ich habe auf dem Blog bereits eine Filmrezension zu The Hateful Eight von Tarantino veröffentlicht, die du hier findest.

Ein Klassiker von einem beachtlichen Regisseur, der unter Filmliebhabern bekannt ist und der immer wieder diskutiert wird, ist Uhrwerk Orange, Originaltitel: A Clockwork Orange. Stanley Kubrick ist vor allem dafür bekannt, unterschiedliche Genres zu produzieren, jedoch jeweils auf unvergleichliche Art und Weise. In diesem Beitrag versuche ich, alle wichtigen Aspekte kurz zu umschreiben, die in Uhrwerk Orange eine Rolle spielen. Wie gesagt, scheu dich nicht, auch deinen Senf hinzuzugeben. Ich freue mich, wenn wir im Anschluss in eine Diskussion kommen. Nutze dafür gerne die Kommentarfunktion.

Uhrwerk Orange: Analyse einer Gesellschaftskritik

Uhrwerk Orange setzt sich vor allem mit der Sexualisierung und der Gewaltbereitschaft unserer Gesellschaft auseinander. Bei beiden Themen handelt es sich um ursprüngliche Triebe, die durch die Gesellschaft unterdrückt werden. Im Folgenden werde ich beleuchten, mit welchen Mitteln Kubrick oben genannte Aspekte in den Mittelpunkt stellt. Achtung, das hier ist keine Inhaltsangabe. Schau dir den Film vorher an, um mitzudiskutieren.

Die Frau als Mutterfigur vereint mit der Frau als sexuelles Objekt

Alex, der Protagonist, wird in Nahaufnahme gezeigt. Sein Blick ist böse und lauernd, sein Auge angemalt. Er trägt einen Hut. Just danach erleben wir eine Rückwärts-Kamerafahrt durch die Milchbar. Auch Alex trinkt Milch, wobei diese Geste höchst sexualisiert dargestellt wird: Denn die Tische in der Milchbar haben die Form von nackten, breitbeinig dasitzenden Frauen. Vulgär ist zudem, dass man zwei Puppen in die Vagina schauen kann. Unterhalb der Puppenfiguren, aus deren Brüsten Milch gezapft werden kann, sind phallusartige Gegenstände aufgestellt. Das Motiv der Frau als Mutter (die dem Kind die Brust gibt) wird hier mit dem Motiv der Frau als Objekt (breitbeinig, erregt) gleichgesetzt, was bereits in der ersten Szene prägend für den weiteren Film wirkt und verstört.

Die Kamerafahrt wird bis zur Halbtotalen fortgeführt, der  komplette Gang ist nun sichtbar. Jetzt sieht man die komplette Gang in der Milchbar sitzen: Sie tragen Hosenträger, Melonenhüte, weiße Hemden und enge, weiße Leggins- zwei haben ein geschminktes Auge, einer rote Lippen. Sie sehen aus wie Künstler und sitzen auf einem Bett, ihrem Spielfeld. Davor sind Puppen drapiert, die wiederum nackte Frauen darstellen. Auch die Frauen im weiteren Verlauf des Films sind nicht mehr als Objekte: Plakativ tragen sie Perücken und fungieren nur als Beiwerk, nie jedoch hat eine von ihnen Persönlichkeit oder eine Geschichte.

Phallus-Symbole dominieren die Gesellschaft

Weiterhin stellt die Kleidung der Männer ein nicht zu unterschätzendes Symbol dar. Alex, Pete, Georgy und Dylan, zum einen kleine Jungs, die Milch trinken, die auf der anderen Seite jedoch auch Halluzinogene durch diese Milch konsumieren (plus „Vellocet, Synthemesc oder Drencrower“) sehen auf den ersten Blick eher unschuldig aus: Ihr Geschlechtsteil trägt einen stabilen Sichtschutz, darunter tragen sie weiße Anzüge, die Farbe der Unschuld. Wozu der Schutz da ist, diese Frage stellt sich der Zuschauer unweigerlich: Zum Schutze vor sich selbst oder vor der Gesellschaft? Oder handelt es sich um einen künstlichen Penis, der den menschlichen noch übertrumpft? Phallusartige Symbole sind in Uhrwerk Orange allgegenwärtig: Stöcke, Nasen, Eis in Phallusform, Kunstwerke, Skulpturen, Schlangen. Auch der Sprachstil der Gang ist vulgär, zudem verwendet sie einen eigenen Jargon („Righty right?!“).

Eine stinkende Welt, in der keine Zucht und Ordnung mehr herrscht

Ein Obdachloser auf der Straße fungiert als Sprachrohr des Regisseurs: Er beschwert sich über eine stinkende Welt, in der keine Zucht und Ordnung mehr herrsche. Dabei wird sein Gesicht in Großaufnahme gezeigt. Natürlich fällt dieser Obdachlose der Gang zum Opfer, denn sie sind ja das Produkt dieser „stinkenden Welt“.

Musik, Sexualität und Gewalt als Kunst

Auch die Musik ist ein wichtiges Stilmittel in Kubricks Meisterwerk. So benutzt er Rossinis „Ouvertüre la gazza ladra“, um das Vergehen an einer Frau auf einer Theaterbühne zu einem Schauspiel hochzustilisieren. Die Frau wird durch vier Männer vergewaltigt. Dieses Vergehen wird durch die Untermalung mit der Ouvertüre zu Kunst umgewandelt, wie noch so oft in diesem Film. Zu Beginn der Szene nimmt der Zuschauer jedoch noch an, dass es sich um ein Stück im Stück handele. Dann jedoch folgt Alex‘ Stimme aus dem Voice Over: „Sie wollten das Rein-Raus-Spiel an einer jungen Devoczka praktizieren“.

Sexuelle Lust in Verbindung mit Gewalt auszuleben ist in Uhrwerk Orange zentrales Merkmal. Es erscheint als unumgängliche Revolution gegen die Zwänge der Gesellschaft. Die Vergewaltigungsszene gipfelt in einem Bandenkrieg und in einer Prügelei, denn Alex und seine Gang nutzen das Geschehen, um den eigenen Gelüsten nach Gewalt nachzukommen. Alex selbst vergleicht die Prügelei mit einem Theaterstück, indem er ausruft: „Richtig Horrorshow!“ Das Messen mit anderen Männern scheint so unumgänglich wie die Objektivierung der Frau oder, zusammengefasst, das Ausleben von unterdrückten Trieben.

Freuds Ödipus-Komplex und die Schaulust des Zuschauers

Die nächste essentielle Szene findet im „Home“ statt. Dass dieses Haus so heißt, ist schon bezeichnend. Denn für Alex ist das Pärchen, das dort wohnt, so etwas wie ein Eltern-Ersatz. Die Gang bricht verkleidet in das Haus ein, angemalt als Clowns. Der Sessel, in dem die Frau sitzt, gleicht einem Ei. Auch hier wird Bezug auf ihre Fruchtbarkeit genommen. Sie trägt rote Kleidung und High Heels, wird also durch diese Darstellung sexualisiert. Der Mann wird durch die Gang zu Boden getreten. Dann muss er mit ansehen, wie seine Frau durch die Männer vergewaltigt wird. Mit Freud gelesen, kann hier der Ödipus-Komplex analysierend herangezogen werden, bei dem der Vater durch den Sohn besiegt und dann ersetzt wird. Der Mann hat eine Froschperspektive auf seine Frau, komplett hilflos.

Kubrick bedient sich in dieser Szene einer Handkamera, damit der Zuschauer mitten in das Geschehen involviert wird. Die Szene zielt auf den Voyeurismus des Zuschauers ab: Denn der Zuschauer bekommt die Perspektive des geknebelten Mannes zugewiesen. Es lässt sich die These aufstellen, dass eine eigene Schaulust hier ausgelebt werden kann und somit die inneren Triebe befriedigt werden. Auch diese Vergewaltigung wird durch Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ zu einem Kunstwerk erklärt und weniger als bedrohlich, denn mehr als betrachtungswürdig dargestellt.

Ein religiöser Bezug zu Jesus und zur Fleischeslust

Seine biologischen Eltern nennt Alex nur M und P. So wie die Erzählstimme es beschreibt, besteht zwischen ihm und seinen Eltern kein besonders inniges Verhältnis. Sein Zimmer im Hause seiner Eltern ist voller sexualisierter Zeichen: Die Gemälde an der Wand sind mit Penissen verschmiert. Ein anderes zeigt eine Frau mit geöffneten Beinen, auf einem anderen ist eine nackte Frau zu sehen, zwischen deren Schenkeln eine Schlange in Richtung Vagina kriecht. Die Szene erinnert an die Büchse der Pandora oder an die Eva, die sich im Paradies der Sünde hingegeben hatte. Die Frau ist Kunst aber auch Sünde.

Im Anschluss nimmt Kubrick Bezug zu Jesus: In einigen Sekundenblitzen durch eine schnelle Montage einzelner Sequenzen werden unterschiedliche Szenen von Gewalt gezeigt, die Alex sich vorstellt, darunter aber auch der ans Kreuz genagelte Jesus. Die Jesus-Figuren in Alex‘ Zimmer werden in Detailaufnahme gezeigt, dort wo die Stigmatisierungen auftreten. Dazu die Stimme von Alex im Voice Over: „Es war die Herrlichkeit und die Herrlichkeit wurde Fleisch.“ Der religiöse Bezug zu Jesus und zu Eva (Schlange zwischen den Schenkeln) lässt diverse Deutungen zu. Die Fleischeslust und der Mensch selbst sind nach meiner Lesart Sünde und Alex ist die Verkörperung all dieser Gelüste, die in einem sozialisierten Menschen im Verborgenen schlummern. „Während ich lauschte (Beethoven ist sein Lieblingskünstler), sah ich so liebliche Bilder“

Definition von Normalität und Verrücktheit?

Alle Menschen um Alex herum scheinen nicht normal zu sein, obwohl Alex die Perversität zugeschrieben wird. Kubrick schafft es, dass der Zuschauer Alex hasst. Zumindest im ersten Teil. Jedoch muss auch hinterfragt werden, welche Rolle der Zuschauer in dieser sexualisierten Gesellschaft einnehmen möchte. Ein weiteres Beispiel ist der Betreuer von Alex, der sich zu ihm aufs Bett setzt und Alex körperlich sehr nah kommt, während er ihm eine Standpauke hält. Diese Szene kann als homoerotisch betrachtet werden. Die Gelüste des Erziehers, der es augenscheinlich auskostet, die Macht über Alex zu haben, sind eine weitere Personifikation der Zustände unserer heutigen (wie auch damaligen) Machtstrukturen.

Eine kranke Gesellschaft als veranschaulichte Pop-Art-Galerie

Weitere Szenen folgen, in denen Alex seine Machtposition in der Gang behauptet. Der Besuch im Reformclub ist besonders prägend: An der Wand hängen Pop-Art-Gemälde von, wie könnte es auch anders sein, nackten Frauen, die dem Zuschauer ihre blanke Vagina entgegen strecken. Beethoven erklingt aus dem Off.

Eine riesige Skulptur in Form eines Penis‘ erscheint im Vordergrund. Alex tritt auf. „Naughty naughty naughty, du alte geile Hure!” sind seine Worte, bevor es einen Kampf um Leben und Tod geben wird. Die Penisskulptur wird in Detailaufnahme im Vordergrund gezeigt, die Cat Lady dahinter. Alex bringt die Skulptur zum Wippen, so dass sie vor der Cat Lady aus Perspektive des Zuschauers zu tänzeln beginnt: Wie bezeichnend, denn der Phallus soll auch in dieser Szene wieder über die Frau siegen, nachdem er mit ihr gespielt hat. Alex erschlägt sie, oral wird die Penisskulptur in ihr Gesicht geschlagen. In diesem Moment wird eine Montage vorgenommen und die Szene des aufgerissenen Mundes wird zu einem Pop-Art-Kunstwerk. Die Frau hat verloren, das Kunstwerk ist vollbracht.

Perspektivwechsel des Zuschauers: Mitleid mit dem Protagonisten

Das Blatt wendet sich nun, denn Alex hat einen Mord begangen. Er wird Opfer und, was kaum zu fassen ist, erhält selbst durch den Zuschauer großes Mitleid. Denn die Strafe, die er erhält, bedeutet für Alex einen Verfall in die wehrlose Opferrolle und Aufgabe all seiner menschlichen Triebe, die auch seine Persönlichkeit bestimmten. Eine Identifikation durch den Zuschauer mit dieser Position löst im Zuschauer extreme Ängste aus. Man fragt sich, ob Alex nun Opfer der Gesellschaft ist oder es bereits zuvor gewesen war.

Alex wird hypnotisiert und kann Gewalt plötzlich nicht mehr ausstehen. Man zwingt ihn, ekelerregende Filme anzusehen, reißt ihm die Augen auf und träufelt ihm Drogen ein, damit er das Gesehene noch intensiver verinnerlicht. Alex selbst erzählt in einem Voice Over, dass er umgeben von geilen Wiederlingen war, „getollshockt“. Alex imaginiert Jesus, wie er das Kreuz trägt und somit sich selbst, der nun die Last tragen muss und für alle Sünder ans Kreuz genagelt wird. Auf der anderen Seite, höchst ambivalent, sieht Alex sich als Römer, der Jesus auspeitscht. Biblische Bezüge sind ein beliebtes Stilmittel in Uhrwerk Orange. Sie erzählen von Schuld und von Lust, von Sünde und von Strafe.

Kann ein Mensch nicht mehr frei wählen, ist er nicht mehr Mensch

Die Frage, ob die sogenannte Ludoviko-Technik, mit der Alex behandelt wird, den Menschen von Grund auf gut macht, steht zentral für die Problematik des Films: Ist der Mensch böse? Ist er gut? Macht die Gesellschaft ihn zu etwas Gutem oder Bösem? Und welchen Anteil hat Erziehung und Sozialisation? Der Priester im Gefängnis ist Kubricks Sprachrohr und stellt fest: „Kann ein Mensch nicht mehr frei wählen, ist er nicht mehr Mensch.“

Der freie Wille spielt also eine ausschlaggebende Rolle, wobei darüber spekuliert werden muss, was überhaupt freier Wille ist und welche Anteile des Willens indoktriniert sind. Alex spricht von „tiefsten Assoziationen zwischen eigener, katastrophalen Umwelterfahrung und der gesehenen Brutalität“. Durch die Ludoviko-Technik wird er so konditioniert, dass er die eigene Gewalt als abscheulich erlebt und auch nicht mehr in der Lage zu Sexualität ist. Medien können also verbildlichen, welche Ängste man selbst hat und diese ins Bewusstsein führen.

Der perfekte Mensch, geschaffen durch Menschenhand?

Interessant ist zudem, dass an dieser Stelle die Frau das erste Mal in einer aktiven und bestimmenden Position vorgeführt wird: In Form der Krankenschwester, die auch aus der Froschperspektive gezeigt wird, die Alex also unterdrückt. Haben wir zuvor eine kritische Position zu einer sexualisierten Gesellschaft gezeigt bekommen, so wird während der Ludoviko-Methode zum ersten Mal auf ein geschichtliches Ereignis referiert: Es werden Szenen aus einer außerfilmischen Realität intradiegetisch gezeigt, um Gewalt vorzuführen: Schwarz-weiße Filmausschnitte aus Dokumenten der Hitlerzeit.

Der zweite Weltkrieg soll in diesem Kontext dazu verhelfen, vor Gewalt zu warnen und ihr ganzes Ausmaß zu veranschaulichen. Auch Hitler stellte sich den perfekten Menschen vor, den er selbst erschaffen wollte. Daran angelehnt wird das Menschenexperiment mit Alex durchgeführt, der ebenfalls durch Menschenhand perfektioniert werden soll. Gekoppelt werden diese Bilder an Alex‘ Lieblingsmusik: Beethoven; 9.Synfonie, 4.Satz. Schlimmer hätte es ihn nicht treffen können, denn nicht nur Gewalt und Sexualität, sondern auch seine Lieblingsmusik kann er nicht mehr rezipieren.

Alex wird anschließend zum menschlichen Versuchskaninchen: Man stellt ihn auf eine Bühne und stellt die Ergebnisse vor, unter denen Alex schwer zu leiden hat. Alex ist nun ein konstruiertes Subjekt, das keinerlei Gender-Aspekte mehr in sich vereint, bis auf sein äußerliches Erscheinungsbild.

Umkehr von Gut und Böse

Zum Schluss rächt sich Alex‘ einstiges Verhalten, als er auf den Obdachlosen trifft, den er einst verprügelte: Im Kollektiv mit anderen Kollegen rächt sich dieser und Alex kann nichts dagegen tun. Der Zuschauer bekommt Mitleid mit Alex. Auch seinen ehemaligen Kollegen, die er einst verspottete, ist er hilflos ausgeliefert: Diese sind jetzt Polizisten, missbrauchen ihre Machtposition aber, um sich zu rächen. Der Höhepunkt wird erreicht, als Alex Zuflucht im HOME sucht, dort, wo er einst die Frau vergewaltigte und den Mann knebelte. Der Mann sitzt wieder an der Schreibmaschine, mittlerweile jedoch im Rollstuhl, hat aber einen Mann in knappen Hotpants an seiner Seite, da die Frau bei der Vergewaltigung gestorben ist (das muss zumindest angenommen werden). Der neue Mann stemmt Gewichte, dient als Beschützer, aber anscheinend auch als neuer Sexualpartner, da er weibliche Kleidung trägt.

An dieser Stelle muss erneut hinterfragt werden, wer in diesem Film als normal und wer als verrückt angesehen werden kann. Da Alex damals die Clownsmaske trug, wiegt er sich in Sicherheit, nicht erkannt zu werden, jedoch verraten ihn die Medienberichte. Erst jetzt, am Ende des Films, wird klar: Der Mann, der sich nun rächen will, ist eine verrückte, machtsüchtige und perverse Person. Er schmiedet den Plan, Alex als Waffe in der Politik einzusetzen. Aber zuerst will er Alex Höllenqualen erleiden lassen, indem er einen Raum mit Beethoven beschallt, bis Alex aus dem Fenster springt.

Aufgewacht im Krankenhaus, wird die ganze Perversion der Gesellschaft wieder einmal veranschaulicht: Anstatt sich zu kümmern, schläft die Krankenschwester mit dem Arzt. Es wird eine Rückblende erzeugt, indem Zeitungsartikel der vergangenen Wochen gezeigt werden. Die Regierung sei angeklagt, weil sie die Ludoviko-Methode bei Alex angewandt habe. Wer ist nun der Böse?

Man stellt den alten Alex wieder her, der aber wiederum allen anderen erneut Böses antun wird. Die Regierung bietet Alex sogar ein Gehalt und einen Job an, um zu kompensieren, was ihm angetan wurde. Diese Szene wird feierlich zelebriert, er bekommt Blumen überreicht und die Presse macht Fotos. Alex phantasiert abschließend von einem Geschlechtsakt mit einer Frau in einem himmelsgleichen Raum, drum herum feine Damen und Herren, die applaudieren. „Ich war geheilt, alright!“

…was bleibt am Ende?

Uhrwerk Orange ist in vielerlei Hinsicht analysierbar. In dieser Analyse sollten die wichtigsten Aspekte angerissen werden. Kubrick stellt eine Gesellschaftskritik auf und regt zum Nachdenken an: Ist das, was Alex tut, nur Resultat von Sozialisation und Erziehung oder ist der Mensch von Grund auf böse? Und ist es ethisch und moralisch in Ordnung, eine Persönlichkeit eines Individuums zu zerstören, um sich selbst zu schützen? Ist die Schaulust des Zuschauers nur ein Ventil, um nicht selbst zu einem Alex zu werden?

Kubrick zwingt den Zuschauer, die Perspektive zu wechseln

Um in einer Gesellschaft friedlich zusammenzuleben, ist das Einhalten von Regeln und Normen ausschlaggebend. Triebe müssen unterdrückt- und Konventionen beachtet werden. Kubrick führt uns vor, was passiert, wenn diese Konventionen gebrochen werden. Wobei unklar ist, ob nur Alex die Welt in dieser sexualisierten Form erlebt oder es sich um eine Welt handelt, die nach dem Regisseur in der Filmdiegese wirklich existiert. Klar ist: Der Zuschauer wechselt zur zweiten Hälfte des Films seine Perspektive und ist auf Alex‘ Seite. Jeder muss für sich selbst entscheiden, was das über die eigene Persönlichkeit aussagt.

Und warum soll das heute noch relevant sein?

Ich finde, das liegt auf der Hand: Nach wie vor ist Sexismus und Rassismus an der Tagesordnung. Wie wir alle wissen, sind diese Themen quasi tagesaktuell (…) Kubrick spitzt die Situation nur zu und übertreibt, um zu veranschaulichen. Und auch die Frage bleibt: Ist es besser, angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein oder als “anders” wahrgenommen zu werden und nicht als weiteres Schaf auf einer Herde zu existieren, das beeinflusst durch die Massenmedien keine eigene Meinung entwickelt, sondern nur das nachplappert, was ihm aufgetischt wird? Keinesfalls möchte ich damit sagen, dass es gut ist, ein perverser Narzisst zu sein, der seine Umwelt gewaltsam peinigt. Ich denke vielmehr, dass auch hier eine Übertreibung nur darstellen soll, was erst durch die Gesellschaft aus uns Menschen gemacht wird (und auch hier muss ein Individualismus berücksichtigt werden, also bitte keinesfalls eine allgemeingültige Aussage hierin lesen). Aber ist es nicht so, dass ähnliche Prozesse heutzutage stattfinden, damit wir noch mehr konsumieren? Werbejingles, Alliterationen in Markennamen (Coca Cola) oder emotionale Clips, die uns an eine Marke binden: Das ist nichts anderes als eine moderne Gehirnwäsche.

Was meinst du?

Ist Uhrwerk Orange heute noch relevant? Wie schaut es mit unserer heutigen Gesellschaft aus und der imaginierten von Kubrick aus dem Jahre 1971, die eine Zukunftsvision darstellen soll? Kann man Parallelen finden oder findest du Kubricks Hyperbeln unangebracht? Und erinnert die Brainwash-Szene nicht auch an die Techniken heutiger Penetration durch ständige Werbung, immer und überall?

Schreib mir in den Kommentaren, ich freu mich auf eine Diskussion.

Titelbild: CC0-Lizenz by Pixabay

5 thoughts on “Was uns “Uhrwerk Orange” schon damals über die heutige Gesellschaft verriet

  1. Hallo 😉 ich muss leider sagen, dass ich den Film noch nicht kenne. Ich werde allerdings meine Bachelor Arbeit über diesen schreiben. Deswegen wollte ich mal nach interessanten Forschungsfrage suchen. Gibt es hier Leute, die eine Idee haben? Beispielsweise: “Wie trägt die Montage des Films zum Rhythmus bei?”

  2. Hi hi hi there, Marie-Christin! Welly well, für eine so junge Dewotschka eine ultrabrutale Rezension, richtig schön horrorshow. Alright, der Sprech, den der ergebene Erzähler und seine Droogies verwenden, nennt sich übrigens Nadsat, righty right? Leider keine Zeit fürs alte Reinraus, noch Schmerzen im Gulliver vom letzten Geteuse. Bettwärts nun, doobidoob, vorher noch eine Moloko-Plus in der Korova-Milchbar zu den Klängen vom guten alten Ludwig van. Alright! ?

    1. Na, wenn du mal nicht direkt dem Film entsprungen bist, dann weiß ich aber auch nicht 😉
      Ultrabrutaler Kommentar 🙂

  3. Hallo Dirk,

    vielen lieben Dank für deinen Beitrag und die wertvollen Ergänzungen.
    Ich kenne das Werk leider nicht, habe aber natürlich mal das gute, alte Wikipedia befragt. Soweit ich das daraus beurteilen kann, klingt deine Überlegung schlüssig, denn es heißt dort:
    “[…]Die Kritik der Moral geht etwa auf den Gedanken zurück, dass in einem ethischen Verständnis ungleiche Handlungen und Absichten gleichgemacht werden. Darin sieht Nietzsche eine Art von Gewalttat, die auf das Leben in Gesellschaft zurückgeführt werden kann, d. h. mit seinem Ausdruck: auf den Menschen als ‚Herdentier’[…]”
    …und…
    “[…] die neuen Tugenden des „Übermenschen“ sind vor allem:
    – das Schaffen, die Tat. Der Übermensch ist ein schaffender Mensch. Zum Schaffen gehört jedoch immer auch das Vernichten.
    – Selbstliebe, die Knechtsein und Wehmut verhindert
    – der (männliche) Wille des Übermenschen, der sein einziger Handlungsmaßstab ist
    – Mut, Härte und Kompromisslosigkeit in der Durchsetzung seiner Ziele […]”

    Nimmt man diese beiden Abschnitte zusammen, wird für mich ein Schuh draus und ich erkenne die Thematik in C.O. wieder.

    Liebe Grüße, Marie

  4. Zunächst einmal Respekt für diesen mit viel Liebe erarbeiteten Beitrag. Ich kann mich nicht daran erinnern das einer meiner Filmgeschichtsdozenten die Thematik von “Uhrwerk Orange” so prägnant auf den Punkt bringen konnte.

    Ich bin voll und ganz deiner Meinung was den Bezug der Massenmedien auf unser Verhalten angeht und möchte eigentlich nur ein wenig ergänzen.
    Ich finde Kubrick zitiert auch Nietzsches “also sprach Zarathustra” in dem er uns den Alex als seine Interpretation als einen Übermenschen verkauft. Vielleicht liege ich mit meiner Meinung auch falsch, aber wie du weißt bin ich gerne bereit zu diskutieren. 😉

    Zum Abschluss noch ein wenig gefährliches halb/Nerd wissen.

    Ich fand es krass, dass Kubrick nach Fertigstellung des Films, den Briten nicht erlaubt hatte seinen Film in englische Kinos zu zeigen.

    Was er wohl für eine Meinung von den Briten hatte 😉 ?

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